Gräben in der Gesellschaft seien durch Corona entstanden, liest man heute immer mal wieder. Der Ukraine-Krieg und die damit zusammenhängenden Probleme für die Deutschen selbst vertiefen diese noch. Und doch habe ich noch nirgendwo etwas von Vergebung oder Versöhnung gelesen.

Warum das so ist und inwieweit individuelle und kollektive Vergebung der „Schlüssel für Bewegung und Freiheit“ sind, liest du im Folgenden:

Wo kommen die häufig synonym verwendetet Worte: Vergebung, Verzeihung, Versöhnung oder Entschuldigung eigentlich her? Und was bedeuten sie genau?

Wortherkunft

Vergeben besteht aus dem Wort „geben“, das auch in seiner Wortherkunft aus dem althochdeutschen „geban“ = „reichen, bringen“ etwas mit „geben“ zu tun hat und der Vorsilbe „ver“.

Verzeihung hat als Bestandteile das aus dem althochdeutschen „zihan“ und dem mittelhochdeutschen „zihen“ kommende „zeihen“ mit der Bedeutung „beschuldigen, anschuldigen“ und ebenfalls die Vorsilbe „ver“.

Die Vorsilbe „ver“ hat viele Bedeutungen – eine davon drückt aus, daß etwa entfernt oder weggenommen wird.

„Vergeben“ bedeutet also im Wortsinn, daß etwas, was gegeben wurde, weggenommen wird, „verzeihen“, daß eine Anschuldigung entfernt wird.

Versöhnen hingegen ist kein zusammengesetztes Verb mit der Vorsilbe „ver“, sondern kommt von dem althochdeutschen „firsuonen“ über das mittelhochdeutsche „versüenen“, das eine Ableitung des Wortes Sühne darstellt. „Sühne“ selbst ist aus dem althochdeutschen „suona“ abgeleitet, was „Friedensschluss, Urteil“ bedeutet. Damit hat „versöhnen“ die Bedeutung von „Frieden schließen“.

Entschuldigen schließlich ist wieder ein zusammengesetztes Verb – aus „Schuld(ig)“ und der Vorsilbe „ent“. Die Vorsilbe „ent“ hat die Bedeutung von „wegführen von, befreien von“. „Schuld“ kommt vom althochdeutschen „sculd(a)“ – jemand zu etwas verpflichtet sein (Geld, aber auch Respekt). Entschuldigen befreit also von einer materiellen oder ideellen Verpflichtung gegenüber jemand.

Bedeutung

Damit haben wir schon eine gute Grundlage zur Differenzierung dieser Worte. Das Folgende ist meine persönliche Unterscheidung, wie ich sie aus der Wortbedeutung ableite.

Ich bitte jemanden um Entschuldigung, weil ich verpflichtet war, mich ihm gegenüber auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Wenn ich z.B. zu spät komme, habe ich die Verpflichtung zur Pünktlichkeit verletzt und bitte den Betreffenden, mich quasi rückwirkend von dieser Verpflichtung zu befreien.

Im gleichen Kontext kann ich um Verzeihung bitten, wenn ich beschuldigt werde, daß meine Unpünktlichkeit zu einer akuten Geldnot geführt hat. Mit der Bitte um Verzeihung möchte ich erreichen, daß ich nicht weiter beschuldigt werde, diese Geldnot verursacht zu haben. Wird mir Verzeihung gewährt, ist damit mein Zuspätkommen samt seiner Folge akzeptiert.

Wenn mir nicht verziehen wird, daß ich durch mein Zuspätkommen eine akute Geldnot verursacht habe, kann ich dennoch Vergebung erbitten, jedoch nicht fordern. Diese kann mir von dem Betreffenden gewährt werden, weil er mich als Mensch liebt und nicht verlieren möchte. Die Tat des Zuspätkommens samt seiner Folge ist damit jedoch nicht verziehen.

Versöhnung ist dann möglich, wenn ich zutiefst bereue, diese Handlung begangen zu haben, und der andere mit mir vergeben möchte, so daß wir miteinander Frieden schließen.

Verzeihung vs. Vergebung

Verzeihung und Vergebung werden häufig synonym verwendet. Aus meiner Sicht ist aber genau das schwierig, denn jemand, der Opfer eines schweren Vergehens ist, will, auch wenn er sich bereitfindet zu vergeben, dem Täter seine Tat nicht verzeihen. Und das soll er auch nicht. Damit ist Vergebung ähnlich wie die Begnadigung nach einer Verurteilung, die nicht den Schuldspruch aufhebt, aber den Verzicht auf die Vollstreckung einer Strafe bedeutet.

Damit bekommt Vergebung auch eine deutlich über eine Handlung oder Tat hinausreichende Bedeutung. Diese Bedeutung ist – neben der Wortherkunft – auch eng mit dem religiösen Verständnis der drei großen monotheistischen Religionen verbunden, für die Vergebung ein essentieller Bestandteil ist. Alle drei besitzen das Grundverständnis, daß Gott den Menschen vergibt. Aus diesem Verständnis für Vergebung wird abgeleitet, daß ein Mensch, der seinem Nächsten vergibt, im Sinne Gottes handelt. Gerade im religiösen Verständnis verzeiht Gott nicht nur einzelne Taten, sondern er vergibt vor allem dem Menschen seine grundlegende Schwäche und Schuld. Damit steht auch in der göttlichen Vergebung die Person und nicht die Tat im Mittelpunkt.  So sagte Jesus am Kreuz: „vergib ihnen, mein Vater, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er dokumentierte hier Verständnis für das Verhalten, das ihm schadete, ohne daß er damit die Tat als solche akzeptierte.

Und vielleicht ist heute der enge, noch immer erkennbare Zusammenhang zwischen der Religion und dem Vergeben einer Schuld der Grund, daß man lieber das Wort verzeihen benutzt, eben um diesen religiösen Kontext zu vermeiden.

Wo wird Vergebung heute thematisiert?

Im individuellen Leben Einzelner

Gerade in Coaching und Therapie geht es sehr häufig um das Thema Vergebung. Denn in der Regel nehmen Menschen Coaching oder Therapie in Anspruch, die in ihrer Vergangenheit Traumata erlitten haben, die sie bis heute in ihrer freien Entwicklung und vor allem in ihrer Lebensfreude einschränken. Oft sind sie voller Haß, voller Trauer, voller Selbstmitleid, voller Rachegedanken. Besonders häufig leiden sie darunter, daß die jeweiligen Täter ihre Taten weder einsehen noch bereuen, sie sogar gegebenenfalls an anderen Menschen wiederholen.

Wenn ich in einem solchen Kontext das Thema „Vergebung“ erwähne, stoße ich immer zunächst auf Ablehnung. Denn die Begriffsverwirrung verleitet meine Klienten erstmal dazu, anzunehmen, ich würde von ihnen erwarten, daß sie diese Verletzung verzeihen. Erst wenn ich den Unterschied zwischen Vergeben und Verzeihen gerade auch an der Aussage von Jesus (obwohl ich nun wirklich nicht religiös bin) erklärt habe, kann ich ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, was für Folgen die Vergebung für sie hätte.

Welche Vorteile hat Vergebung auch in einer solchen Situation?

Wie bereits Buddha zugeschrieben wird, ist: „an Zorn festzuhalten wie Gift zu trinken und zu erwarten, daß der andere daran stirbt.“ Wenn meine Klienten meinem Rat folgen und notieren, wie oft sie von Gefühlen wie Wut, Haß oder von Rachegedanken gegenüber dem Täter geplagt werden und wir dann darüber reflektieren, wie unglaublich viel Energie sie in diese objektiv betrachtet völlig nutzlosen Gefühle stecken, erkennen sie in der Regel, was sie sich antun. Denn leider klappt es nie, daß der andere durch diese Wut oder die Gedanken an Rache zu Tode kommt.

Der wichtigste Vorteil ist also die Reduzierung der Wut. Dadurch steigt die Verfügbarkeit der vorhandenen Energie für die wichtigeren Aufgaben des Lebens.

Zudem setzt sich der Klient mit sich und seinen Gefühlen in Bezug auf die Tat und die Tatfolgen auseinander, aber auch mit den Rahmenbedingungen und den Verletzungen des Täters. Das führt zu einer hohen Fähigkeit zur Selbstreflexion, die vor allem damit verbunden ist, andere Lebensformen und Sichtweisen wahrzunehmen und ihren Einfluß auf Menschen zu bewerten.

Die Bereitschaft zur Vergebung erleichtert dem Menschen damit sein weiteres Leben, denn diese Bereitschaft ist ja nicht auf diesen einen Täter beschränkt. Sie ist eine neue Fähigkeit, die der Mensch durch die Erkenntnis von eigenen Schatten, von fremden Einflüssen, von Schuld und Scham anderer, aber auch der eigenen, erworben hat. Eine Fähigkeit, die ihn flexibler, toleranter und demütiger macht, was wiederum Einfluß auf seine weiteren Entscheidungen und seinen Umgang mit anderen Menschen in der Zukunft hat.

Mit dieser Entscheidung für seine Zukunft hat der Mensch sich zudem entschieden, die Weitergabe dieses Leids in die nächste Generation abzubrechen, denn eine wahrhafte Vergebung und ein echter Schlußstrich verändern auch die epigenetische Weitergabe der Folgen eines Traumas.

Wie kannst du selbst diesen Prozeß umsetzen, die Fähigkeit des Vergebens zu erlernen?

Hierzu gibt es auf dem Büchermarkt einige Anleitungen. Auch in meiner Bücherrubrik findest du (demnächst) welche. Die wesentlichen Schritte sind in der Regel:

  1. Die Wut, die Rachedanken zu erkennen, sie sich selbst einzugestehen und ihre Auswirkungen auf das eigene Leben zu bewerten,
  2. Eine Vergebung in Betracht zu ziehen und sich ernsthaft und ehrlich dazu zu entschließen,
  3. Gedanken zu entwickeln, Sichtweisen zu erlernen, die eine Vergebung möglich machen (also z.B. Mitgefühl zu entwickeln, Schmerz zu erkennen…)
  4. Sich der Vergebung nähern (in Form von Briefen oder Geschenken an den Täter, die jedoch auch ohne das persönliche Überreichen Wirkung entfalten),
  5. Vergeben und damit einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen.
  6. Gegebenenfalls eine Versöhnung (wenn der Täter zutiefst bereut hat) in Betracht ziehen und umsetzen.
  7. Sich einer neuen Zukunft zuwenden.

Vergebung Einzelner sich selbst gegenüber

Das Thema Vergebung im individuellen Kontext geht über das Vergeben gegenüber einem anderen Menschen hinaus. Auch ohne schwere traumatische Verletzungen durch andere leiden viele von uns unter Entscheidungen, die sie getroffen haben und von denen sie wissen, daß sie damit andere verletzt haben, ohne daß damit eine böse Absicht verbunden war. Damit einher geht häufig die Einsicht, daß wir alle aus Licht und Schatten bestehen, daß also auch in einer guten Tat eine böse Absicht lauern kann wie auch ein Quentchen Licht in einer bösen Tat. Dazu kommt, daß es geschriebene und ungeschriebene Regeln der Gesellschaft gibt, die unser Tun in einem schlechten Licht erscheinen lassen (wenn ich z.B. in einer auf Monogamie orientierten Gesellschaft Polyarmorie lebe 😉). Und auch wenn viele das Christentum hinter sich gelassen haben, läßt uns dies alle in Schuld zurück. Und damit sind wir bei der Frage, wie wir uns selbst vergeben können.

Die Gründe, warum du dir selbst vergeben solltest, sind dieselben, wie wenn du jemand anderem vergeben möchtest. Die ständige Selbstbezichtigung, die Trauer, die Reue sind eine ebenso schlechte Basis für eine freie Weiterentwicklung. Und auch der Prozeß ist derselbe. Du benötigst auch hier die Fähigkeit, zu erkennen, was dich wie beeinflußt hat und wieso du Entscheidungen getroffen hast, für die du Vergebung benötigst. Selbst die Annäherung an die Vergebung der eigenen Schuld – Briefe, Geschenke – sind analog anwendbar.

Warum spielt nun im kollektiven Erleben Vergebung keine Rolle?

Geschichte

Der Prozess der Vergebung ist schwer zu betrachten, ohne die Frage der Schuld zu thematisieren. Doch im gerade im historischen Kontext in Deutschland ist die Schuldfrage noch immer epigenetisches Erbe. Denn es konnte nicht gelingen, eine kollektive Vergebung der Opfer zu erlangen, schlicht, weil die Mehrheit der Opfer das Ende des 2. Weltkrieges nicht erleben durften. Und so liegt die Schuld noch immer auf den Schultern der Enkel (siehe z.B. diesem Artikel in der Zeit).

Gerade in diesem Zusammenhang kann man die Frage stellen, ob es eigentlich auch Taten gibt, die man nicht vergeben kann und soll. Diese Frage richtet den Fokus auf etwas sehr Bedeutsames in Bezug auf Vergebung. Vergebung ist ein Prozeß, der nicht bilateral und nicht ausgeglichen im Geben und Nehmen ist. Und so sind gerade die unverzeihlichen Taten die, die sich diesem Ausgleich von Geben und Nehmen entziehen und damit den Kerngedanken der Vergebung beinhalten (siehe auch diese interessante Buchrezension).

Gegenwart und Zukunft

Die Frage ist jedoch, wie gerade dieser Schatten der Geschichte von ganz Europa genommen werden kann. Da wir als Deutsche Vergebung nicht verlangen können, sind wir auf die Fähigkeit zur Vergebung bei den Enkeln der Opfer angewiesen. Eine Fähigkeit, die wir selbst jedoch weder im Hinblick auf andere gesellschaftliche Formen noch auf in unserer Gesellschaft lebende Gruppen entwickeln, ja, sie noch nicht einmal als erstrebenswert erachten. So verstärkt sich die Auseinandersetzung zwischen den Generationen in unserer Gesellschaft im Hinblick auf Ursachen und Lösungen für die Klimakatastrophe.

Ist nicht eine Gesellschaft und alle in ihr lebenden Gruppen – und das meine ich jetzt nicht nur auf Deutschland bezogen, sondern global  – nicht zumindest in einer gewissen Weise verpflichtet zu vergeben, um die Gesellschaft in ihrer Ethik und Moral nicht zu beschädigen, bzw. die Energie in einer Gesellschaft – auch global – nicht langfristig ins Negative abkippen zu lassen?

Doch das erfordert nicht nur die Aufgabe der Wünsche nach persönlicher Bereicherung und Durchsetzung der eigenen Interessen, sondern zudem die Aufgabe der moralisierenden Unterscheidung zwischen Gut und Böse, die eine Vergebung dem Bösen gegenüber aus dem vermeintlich sicheren Wissen vom einzig Guten heraus per se unmöglich macht. Denn Vergebung erfordert – wie immer man das definiert – die Ausrichtung des Denkens und Fühlens auf einen anderen und eine gewisse Akzeptanz anderer Weltbilder. Eine Gesellschaft, die zum Teil noch immer von der Konzentration auf den individuellen, materiellen Erfolg fokussiert ist und deren anderer Teil seine wertschätzendere Kultur einzig auf Gleichdenkende fokussiert, ist das logischerweise kein Thema. (Vertiefendes zu diesen unterschiedlichen Ebenen in der Gesellschaft kannst du in meinem Blog zur Theorie der Spiral Dynamics lesen.)

Warum wir uns auch als Gesellschaft mit dem Vergeben beschäftigen müssen:

Genau wie Menschen schaden sich Gesellschaften, wenn sie statt Vergebung immer wieder die Vergeltung wählen. Wie sehr wir uns damit schaden, ist der hinduistischen Interpretation von Vergebung zu entnehmen. Nicht umsonst wird dort Vergebung als Wahrheit und Heiligkeit, vor allem aber als notwendig für den Zusammenhalt des Universums gesehen. Wird nicht vergeben, zerbricht also das Universum – die Gesellschaft.

Auch auf Hawaii wird Vergebung und daraus resultierende Versöhnung großgeschrieben. Das hier entwickelte traditionelle Verfahren Ho’oponopono hat sich mittlerweile wegen seines einfachen Ablaufes in Psychologie und Coaching weltweit etabliert und ist aus meiner Sicht auch für gesellschaftliche Versöhnung einsetzbar. Es erfordert die Anwesenheit aller am Problem Beteiligten (gesellschaftlich möglicherweise durch Vertreter einzelner Gruppen sicherzustellen), das gegenseitige Verzeihen gemachter Fehler, den Ausdruck gegenseitiger Liebe und Wertschätzung sowie den Dank, daß man durch dieses Ritual Probleme erkennen und beseitigen konnte.

Spiritualität und Vergebung

Und so sind wir – vor allem was das Anerkennen der gegenseitigen Abhängigkeit und Verbundenheit angeht, auch flugs wieder bei der Spiritualität (siehe meinen Blog dazu). Und damit meine ich nicht, daß im Sinne einer sogenannten „Spiritualität“ von Karma und Schuld und Resonanz die Rede ist und so die Verantwortung für bestimmte Handlungen auf jemanden oder auch eine Gruppe projiziert und die Schuld dort verortet wird. Sondern ich meine die, jeder spirituellen Erfahrung immanente, tiefe innere Überzeugung, daß Vergebung ein Teil unserer Verbindung von allem mit allem ist und durch sie die Energien und Schwingungen im Feld in einem positiven Bereich gehalten werden können.

Fazit

Solange uns vorgegeben wird, was wir dürfen und was nicht, was wir sind und was nicht, führen wir kein selbstbestimmtes Leben. Und das Gefühl der Schuld, das Gefühl des Opferseins bringt uns genau in diese Situation. Zum Erwachsenwerden gehört daher unbedingt – und das gilt für Individuen und für Gesellschaften – daß sie sich dieser von außen aufgedrängten Schuld, dieser von außen aufgedrängten Gefühle bewusst werden müssen und sie entschlossen beiseite schieben. Vergebung ist dafür unabdingbar. Erst mit der Freiheit von diesen Gefühlen ist eine weitere Bewegung in Richtung Zukunft möglich.

In diesem Sinne hoffe ich, daß auch du das Thema Vergebung in dein und unser Leben holen wirst.

Deine Claudia

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