Vielleicht fragst du dich, warum ich angesichts des nahenden Frühlings über so ein Thema schreibe. Das hat zum einen damit zu tun, daß meine Mutter nun mit 88 Jahren in ein Pflegeheim gekommen ist und ich bei jedem Besuch mit der Sterblichkeit (und nebenbei bemerkt auch mit den Rahmenbedingungen des allerletzten Lebensabschnittes) konfrontiert werde. Zum anderen stoße ich gerade bei den Klienten mit Angst- und Panikstörungen auf das Thema Tod – der eigene, der eines nahen Menschen, auch der eines geliebten Haustieres. Grund genug also, sich einmal mehr mit diesem Thema zu befassen. Ich möchte dir hier gern etwas über den Umgang (auch den historischen) mit dem Tod erzählen. Zudem will ich dir sechs Gründe nennen, warum es auch für dich außerordentlich wichtig ist, dich mit dem Tod auseinanderzusetzen.
Zunächst einmal ist der Tod und dessen Wahrnehmung als das Ende eines Lebens nicht allein unser Privileg. Mittlerweile sind doch viele Forscher von der Hypothese abgekommen, daß der Mensch die Krone der Schöpfung ist, weil nur er über Emotionen, Sprache und Handwerksgebrauch verfügt. Heute sind eine Reihe von Trauerritualen und der Umgang mit alten Tieren im Rudel wissenschaftlich dokumentiert. Besonders beeindruckend ist die Äußerung der in der Zwischenzeit verstorbenen Gorilladame Koko: „Wohin gehen Gorillas, wenn sie sterben?“, fragte die Trainerin sie einmal. Koko überlegte, dann antwortete sie: „Gemütlich – Höhle – auf Wiedersehen.“ (Quelle:)
Auch der Mensch hegt seit frühester Vorzeit eine ähnliche Vorstellung vom Sterben wie Koko. Die früheste Form, die wir auch heute noch bei einigen indigenen Völkern finden, ist wohl die tatsächliche körperliche Aufnahme der Verstorbenen durch den Verzehr der Asche der Verstorbenen (z.B. bei den Yanomami, Robert Müntz, Fledermäuse melken am Amazonas, S. 66). Später hat der Mensch der Vorstellung einer Höhle eine mehr nach außen gelagerte Form verliehen. Am berühmtesten sind natürlich die Grabriten der alten Ägypter, schon deshalb, weil ihre Fokussierung auf den Tod zu den berühmtesten und rätselhaftesten Bauwerken der Welt geführt hat. Bis auf die Ägypter zogen es die meisten Kulturen allerdings weiterhin vor, ihre Toten zu verbrennen. Grabbeigaben, die die Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tod bezeugen, gab es jedoch bei Erd- und Feuerbestattungen. Die Grabbeigaben hörten erst auf, als mit den monotheistischen Religionen die Vorstellung eines Paradieses entstand, das in seiner Vollkommenheit auf die unvollkommenen Mitbringsel aus dem irdischen Leben nicht angewiesen war. Konsequenterweise hätte man natürlich all denen, deren Weg nach Auffassung ihrer Zeitgenossen geradewegs in die Hölle führte, etwas Hilfreiches mitgeben können. Aber vielleicht war die heimliche Schadenfreude der Grund für das Fehlen entsprechender Beigaben. Noch mehr als die Überzeugung, daß die Entscheidung über Himmel und Hölle allein Gott oblag. Die Entwicklung der Bestattungskultur ging in Europa auch mit langer Trauer und Trauerritualen Hand in Hand. In Asien und Afrika wurde der Tod nicht in gleichem Maß betrauert. Denn der Tod war entweder (im Hinduismus und Buddhismus) eine Möglichkeit, den endlosen und mühsamen Kreislauf der Wiedergeburten endlich verlassen zu können. Oder der Tod stellte – wie z.B. in Benin, Togo oder Ghana- nicht das Ende des Lebens dar, sondern nur das Ende des fleischlichen Körpers. (Quelle:) In all den letzteren Fällen ist der Tod zwar traurig, aber auch ein Grund zum Feiern, denn ein neuer Abschnitt beginnt nun für den Verstorbenen. Auch wenn der Tod an sich auch hier gefürchtet wird, ist er doch in seiner Realität immer präsent und dient als Orientierung für ein gut gelebtes Leben.
Damit sind wir schon bei dem ersten Grund:
1. Du verstehst die wirklichen Prioritäten deines Lebens
Denn Philosophen, Therapeuten und spirituelle Führer sind sich seit langem darüber im Klaren, daß die Verdrängung des Todes zu einem wenig fokussierten Leben führt. Sigmund Freud beschreibt im Grunde unsere Welt, wenn er sagt: „Wenn der Tod ausgeschlossen wird, verarmt das Leben, wird seicht und leer.“ Und so berichten zahlreiche Menschen, die eine todesnahe Erfahrung in ihrem Leben machen mußten, daß sie nicht nur die Prioritäten ihres Lebens neu bewertet haben. Sie bekamen auch ein gesteigertes positives Gefühl für die einzelnen Momente des Lebens. Sie begannen die elementaren Tatsachen des Lebens zu schätzen, wie das tägliche Aufwachen am Morgen. (Jetzt denk mal kurz an dein letztes Aufwachen: warst du voller Dankbarkeit für das Leben, voller Freude angesichts des neuen Tages? Oder warst du vielmehr mies gelaunt, weil der Wecker geklingelt, der Nachbar die Tür geknallt hat oder du einfach keine Lust auf den bevorstehenden Tag hattest?) Menschen mit einer todesnahen Erfahrung wünschen sich mehr und intensivere Kommunikation mit ihren liebsten Menschen. Viele lernen erstmals Gefühle auszusprechen und anzunehmen. Neue Lebenswege, die man vielleicht immer schon mal ausprobieren wollte, werden jetzt in Angriff genommen, negativ wirkende Dinge, Verhaltensweisen und Menschen aus ihrem Leben entfernt. Denn diese Menschen haben ganz hautnah die Erfahrung gemacht, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Und das unsere Formeln: „das würde ich auch machen, wenn…“ oder „wenn die Kinder aus dem Haus sind, dann mache ich endlich ….“ oder „ach, das kann ich doch morgen auch noch machen.“ dann keinen Wert mehr haben. Denn das Leben ist ohne Vorwarnung zu Ende. Und du bist fort. Und wenn ihr googelt (und das habe ich natürlich getan), was alte Menschen am Ende bereuen, so ist es fast nie etwas, was sie getan haben, sondern das, was sie nicht getan haben. Nun bist du dran: was hast du noch immer nicht getan, obwohl du es so gern möchtest (etwas sagen, etwas tun, etwas fühlen..)?
Und da sind wir gleich beim zweiten Grund für die Auseinandersetzung mit dem Tod:
2. Du erkennst, wer du bist
Wenn du an den Tod denkst, vor allem an den eigenen, dann ist es wohl die traurige Wahrheit, daß die Welt nach deinem Tod einfach weiterexistieren wird. Du bist gar nichts Besonderes, denn du stirbst wie alle anderen auch. Und schlußendlich wird dir auch klar, daß du den Tod nicht kontrollieren kannst. Das Wissen darum, was du nicht bist – etwas Besonderes – ist bei aller Wut und Trauer, die dieser Gedanke vielleicht auslöst, eine gute Grundlage herauszufinden, was du denn bist. Denn möglicherweise findest du es gar nicht so einfach, herauszufinden, was du eigentlich unbedingt noch tun möchtest. Vielleicht bist du so gefangen in einer Beziehung oder einer Arbeit oder einer Familie, daß deine Fokussierung schon lange nicht mehr dir selbst gilt, sondern den Aspekten deines Umfeldes. Wenn du dir nämlich vorstellst, daß Gevatter Tod morgen vor deiner Tür steht, dann ist vielleicht deine erste Reaktion: „Oh Gott, was soll denn dann (mein Kind, mein Mann, meine Mutter, mein Team….) tun!“ Wenn das so ist, ist der wichtigste Punkt auf der Agenda „Was vor dem Tod zu tun ist“ die Klärung der Frage, wer du bist. Um dich dem zu nähern, kannst du dir zum einen die Frage stellen, was du bist, wenn du deine ganzen Rollen ablegst (die liebevolle Mutter, die verständnisvolle Kollegin, die Familienmanagerin, der Topverdiener, der Held, der Sohn…..). Zum anderen kannst du dir die Frage stellen, was jemand, der dich im Leben nicht gekannt hat, anhand der Äußerungen deiner Lieben und der Dinge, die du zurücklässt, über dich denken würde. Und ob das Ergebnis dir gefällt? Fühlst du dich richtig wahrgenommen? Oder ist nur eine deiner Rollen beschrieben worden?
Und schon sind wir beim dritten Grund:
3. Du reduzierst die Angst vor dem Tod.
Die Angst vor dem Tod ist einer der häufigsten Gründe für Schlaflosigkeit und psychische Erkrankungen. So haben zum Beispiel 70% aller Patienten mit Zwangsstörungen vor dem Ausbruch der Erkrankung eine Todeserfahrung gemacht (ob selbst oder in bezug auf nahe Angehörige). Die Angst vor dem Tod ist oft gar nicht die Angst vor dem Ende des Lebens, sondern manchmal auch die vor dem Sterben mit Schmerzen und Trauer, die Angst, Dinge nicht vollendet zu haben, die Angst, Menschen zurückzulassen. Und oft liegt die Angst vor dem Tod auch unter den Ängsten, mit denen auch du dich vielleicht herumschlägst, der Angst vor dem Versagen, der Angst vor dem Verlust. Deutlich wird das oft an den Themen unserer Träume, denn das häufigste Angstthema in Träumen ist der Tod, der eigene, der von anderen oder eine Verfolgung, die zum Tod führen kann. Und diese Ängste werden kompensiert, indem man entweder versucht, die Kontrolle über alles zu behalten und sich damit persönlich unverletzlich zu fühlen, was zu psychischen Störungen wie Narzissmus und Aggressivität sowie zu einem Leben als workaholic führen kann. Oder man hofft auf den Retter (dessen Verkörperung gerade bei Krankheiten der Arzt mit seiner vorgestellten Herrschaft über Leben und Tod ist). In diesem Fall versucht man geradezu mit den Menschen zu verschmelzen, denen man diese Retterfunktion unterbewußt zugewiesen hat. Diese Art der Verdrängung kann sich in zwanghaften oder depressiven Störungen äußern. Es ist leichter für jemand, der sich eher von seinen eigenen Vorstellungen leiten läßt, auch wenn das eine nicht wirklich vorhandene Kontrolle über alle Aspekte des Lebens beinhaltet, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Schwerer ist es für denjenigen, der alle Impulse seines Lebens aus einer äußeren Anleitung zieht. Doch ist es in beiden Fällen ratsam, sich sozusagen einer Desensibilisierung in bezug auf den Tod zu unterziehen. Dazu reicht es oft schon aus, den Gedanken an ein tatsächliches Ende zuzulassen. Wenn du dir in diesem Zusammenhang klar wirst, wer du bist und was du in deinem Leben noch erwartest, wenn du dich auf die Momente deines Lebens mit Dankbarkeit konzentrierst und die Kommunikation mit anderen Menschen auf eine tiefere Ebene führst, so wirst du merken, daß bestimmte störende Verhaltensweisen verschwinden. Voraussichtlich wirst du besser schlafen und ausgeglichener und zufriedener sein. Mit dieser Veränderung hast du dich ganz unmerklich in deiner Persönlichkeit weiterentwickelt.
Und schon sind wir bei dem vierten Grund:
4. Du lernst loszulassen und erkennst deine Verbindung mit allem.
Nicht umsonst habe ich die Tarotkarte vom Tod als Bild vor diesen Text gestellt. Hajo Banzaf hat in seinem Buch:“ Gut beraten mit Tarot“ diese Karte wie folgt beschrieben: „Die Menschen schreiten der Nacht entgegen und können nur wahrnehmen, daß es immer schwärzer werden wird. Der Tod reitet dagegen zum neuen Sonnenaufgang und macht damit deutlich, daß der Mensch auch in finstersten Zeiten darauf vertrauen darf und soll, daß sie zu einem neuen Morgen führen. Die Karte selbst bedeutet aber noch nicht den Beginn des Neuen, sondern das natürliche Ende des Alten. Es muss erst vergehen und zu Grunde gehen, bevor das Neue entstehen kann. Ob der Tod als Erlösung erlebt wird oder mit Angst und Trennungsschmerz verbunden ist, liegt am Fragenden.“ Ich denke, das beschreibt auch, daß viele von uns – mich eingeschlossen – Abschnitte des Lebens auf eine Weise beendet haben, die man einen kleinen Tod nennen konnte. Um danach größer, schöner, neuer weiter machen zu können. Wenn auch du so einen Zustand kennst, weißt du, daß der neue Abschnitt erst beginnen kann, wenn du den alten wirklich losgelassen hast. Wenn du dich aktiv mit dem Tod auseinandersetzt, wird dir als erstes klar werden, daß du all die Altlasten, die du noch immer mit dir trägst, loswerden mußt. Erst dann kannst all das in Angriff nehmen, was du dir erträumst. Oft haben Todeserfahrungen und auch die Auseinandersetzung mit dem Tod eine Hinwendung zu spirituellen Themen zur Folge. Nicht umsonst sind sehr religiöse Menschen auch deutlich weniger von Todesangst geplagt. Denn wenn wir aus all den kleinen Toden als neuere, weisere, andere Menschen hervorgehen, spricht viel dafür, daß auch der Tod nur eine Transformation darstellt. Die Erkenntnisse der Quantenphysik geben zahlreiche Hinweise auf eine Verbindung von allem mit allem, die auf Energie beruht. Und da Energie nicht verloren gehen, sondern sich nur transformieren kann, ist bislang noch nicht geklärt, wie genau die Transformation unserer individuellen Energie in eine andere Form vor sich geht. Daß es aber eine solche Transformation gibt, davon bin zumindest ich zutiefst überzeugt. Doch selbst wenn dir diese Überzeugung zu weit geht, ist die Verdrängung des Todes dennoch – wie schon die ersten Punkte zeigen sollen – eine Verhinderung deiner persönlichen Weiterentwicklung, deines Abschiedes von nicht mehr zielführendem Verhalten und dich negativ beeinflussenden Menschen.
Und schon sind wir beim fünften Punkt:
5. Du sprichst mit deinem Kind über das Leben und den Tod.
Kinder beschäftigen sich von klein an mit dem Thema Tod. Sie finden herabgefallene Blätter, tote Insekten, tote Tiere. Sie erleben den Tod eines Haustieres und im schlimmsten Fall den eines Geschwisters oder eines Elternteiles. Deutlich mehr als die Hälfte der Kinder zwischen 6 und 10 Jahren vervollständigen eine Geschichte, in der kein Hinweis auf den Tod enthalten ist, mit einem Todesbezug. Da hilft es gerade wenig, wenn sie bei einem solchen Interesse ausweichende und oft falsche Antworten erhalten, zugleich aber die Angst der Erwachsenen wahrnehmen. Daraus können sie nur den Schluß ziehen, daß der Tod und auch die Frage danach etwas ist, was man am besten in den Tiefen des Unterbewußtseins vergräbt. Gerade Kinder, die einen nahen Verwandten durch Tod verloren haben, profitieren hingegen von kindgerecht formulierter Ehrlichkeit in bezug auf den Tod.
Und abschließend noch ein sechster Punkt, der mich gerade auch bei meinen Besuchen im Pflegeheim beschäftigt.
6. Du weißt, wie du das Ende deines Lebens verbringen möchtest.
Eine öffentliche Diskussion über das Thema „Sterben in Würde“ wird gerade durch die Verdrängung der Allgegenwart des Todes in einer vom Jugendwahn gequälten Gesellschaft unmöglich gemacht. In einem normalen Sterbeprozeß versagt zunehmend der Körper, er empfindet am Ende auch weder Hunger noch Durst. Und von Mitarbeitern im Hospiz und anderen Sterbende betreuenden Personen wird immer wieder berichtet, daß selbst im Falle schwerer Krankheit, ja auch Demenz, am Ende des Lebens eine sogenannte „terminale Klarheit“ entsteht, die die bewußte Verabschiedung des Sterbenden von seinem Umfeld ermöglicht. Der Körper ist also in Abbruch-, die Seele vielleicht in Aufbruchstimmung. Vielleicht gab es deshalb früher die dreitägige Totenwache – um die Möglichkeit zu schaffen, den feinstofflichen Teil (die Seele) vom grobstofflichen (dem Körper) zu trennen.
90% aller Menschen würden gern zu Hause sterben, jedoch ist das nur etwa 25-30% möglich, fast 50% sterben im Krankenhaus, der Rest im Pflegeheim. Und die meisten davon stehen so unter Medikamenteneinfluß, daß eine terminale Klarheit und eine Verabschiedung nicht möglich ist. Doch nur, wenn die Existenz des Todes für jeden einzelnen von uns nicht mehr verdrängt wird, sondern zu dem Faktor wird, nach dem wir die Güte unseres Lebens bemessen, können wir auch über unsere heutigen Rituale des Sterbens neu diskutieren.
In der Hoffnung, dir viel zum Nachdenken und hoffentlich viel zu einer positiven Veränderung deines Lebens mitgegeben zu haben, verbleibe ich wie immer mit den herzlichsten Grüßen.
Deine Claudia