Jonathan Littell, ein zweisprachiger Schriftsteller mit jüdischem Familienhintergrund, hat zwischen 2007 und 2009 mit seinem Buch „Die Wohlgesinnten“ die Gemüter nicht nur in Deutschland beschäftigt. Warum? Weil er sein Buch über den Nationalsozialismus und den zweiten Weltkrieg aus der Sicht eines Nationalsozialisten schrieb. Max Aue, geboren in Deutschland und aufgewachsen in Frankreich, inzestuös an seine Zwillingsschwester gebunden, geht aus Trotz gegen die Neuverheiratung der Mutter mit einem Franzosen schon Ende der 20er Jahre nach Deutschland, wo er sich sehr bald der nationalsozialistischen Bewegung und innerhalb dieser der SS anschließt. Obwohl der Charakter fiktiv ist, wirkt er – vor allem durch seine Gespräche mit sehr realen Personen – so realistisch, daß der Leser den Ostfeldzug, die Vernichtung der Juden und Stalingrad sowie das Ende des Dritten Reiches unmittelbar mitzuerleben glaubt. Max Aue schreibt seinen Rückblick auf das Geschehen aus der Sicherheit einer neuen Existenz in Frankreich, frei von Schuld und Reue und mit tiefen Einblicken in das Wesen des Menschen und die Kultur des Nationalsozialismus.
Es ist ein furchtbares Buch. Furchtbar, weil es das entsetzliche Grauen des Krieges und der seelenlosen Vernichtung von Menschenleben emotionslos beschreibt. Ich wollte abwechselnd weinen, schreien, wüten. Öfter dachte ich, es reicht jetzt und wollte das Buch zuschlagen. Und doch las ich die 1359 Seiten bis zum bitteren Ende, weil es dem Autor gelang, mich so in das Buch hineinzuziehen, daß ich auch das Ende erfahren wollte.
Neben der Beschreibung all der unsäglichen Grausamkeiten läßt Littell uns auch Einblick in die Psyche von Max Aue nehmen. Ist er ein Narzisst? Ein Psychopath? Schon am Anfang des Buches läßt Max Aue den Leser wissen, daß die Frage von Schuld nicht erst beim Ansetzen des Gewehrs im Nacken des jüdischen Kindes beginnt, sondern bei jedem, der mitgewirkt und gewußt hat. Mindestens die inzestuöse Obsession des Max Aue macht ihn aus psychologischer Sicht zu einem Menschen, der seine Probleme nicht bewältigen konnte. Ein Fakt übrigens, den ich am wenigsten überzeugend an diesem Buch fand. Gerade ohne diese Obsession, die sich am Ende des Krieges und im Buch über mehr als 70 Seiten Bahn bricht, wäre der Einblick in die Psyche eines SS-Mannes, der nicht nur sklavisch den Befehlen seiner Vorgesetzten folgt, sondern den nationalsozialistischen Weg tatsächlich für den Richtigen hält, noch überzeugender gewesen.
Immer wieder fragt sich der Schreibende – und der Autor und der Leser mit ihm – wie Menschen es geschafft haben, das Offensichtliche zu übersehen. Den Abtransport der Nachbarn, die Gerüchte in Kombination mit der öffentlich geäußerten und propagierten Judenverachtung. Wie sie es selbst im Umfeld von süßlich stinkenden Schornsteinen der Lagerkrematorien noch geschafft haben, wegzuschauen.
Differenzierter beschreibt er den Umgang mit der konkreten Vernichtungsmaschinerie. Es werden Wehrmachtsoldaten gezeigt, die – auch wenn sie in der Regel nicht an den Erschießungen beteiligt waren – begeistert Bilder von den Aktionen machten. Andererseits werden nicht nur manche Wehrmachtsangehörige, sondern auch einige den Tötungsschuss setzende SS-Mitgliedern psychisch auffällig und nehmen sich das Leben, vor allem, nachdem die Tötungsbefehle auch die Frauen und Kinder der in den okkupierten Gebieten lebenden Juden einschlossen. Er beschreibt, wie die nationalsozialistische Ideologie – jemand tief im Innern als bedrohlich und feindlich zu verstehen – für die meisten der Beteiligten die Grundlage für ein „Ist nicht schön, aber muß halt gemacht werden.“ bildete. Eine bestürzende Analyse, die zeigt, wie anfällig Menschen für Bedrohungsszenarien sind und wie schnell daraus Gewalt gegen die vermeintliche Bedrohung erwächst.
Aue sagt von sich, daß er das diffizile Machtgeflecht zwischen den einzelnen Bereichen des nationalsozialistischen Staates und seinen Beteiligten nicht versteht, was ihn immer mal wieder in eine unerfreuliche Situation – so z.B. in den Kessel von Stalingrad – bringt. Und so nimmt er auch den Repräsentanten ihre herausragende Größe. Eichmann, der heute als der „Judenvernichter“ per se gilt, ist für Aue nur ein ambitionierter Sachbearbeiter, der eben einfach das Thema der Judenvernichtung so zu organisieren hatte, daß es zu seinem eigenen Fortkommen beitrug. Eine Beschreibung, die bei den Angehörigen der Opfer vermutlich nicht gerade Freude ausgelöst hat. Ich fand es aber wichtig, daß gerade dadurch den heute noch namentlich bekannten Nazis die Einzigartigkeit genommen wird, eine Einzigartigkeit, die nur zu gern als Garant dafür betrachtet wird, daß das einem normalen Menschen ja nicht passieren könnte. Littell zeigt: DOCH! Denn gerade die emotionalen Judenhasser waren aus seiner Sicht zum einen wenig erfolgreich im Rahmen einer bürokratisch laufenden Maschinerie, zum anderen auch verdammenswert, weil sie eine logisch und rational begründete Aufgabe mit unbegründetem Haß versahen. Welch einen logistischen Aufwand die Vernichtung der Juden – und die in Folge geplante Vernichtung von Polen und Russen – benötigte und wie viele Menschen daran beteiligt waren, die gewußt haben und im Rahmen dieses Wissens ihre Aufgabe erfüllten, wird in diesem Buch nur allzu deutlich.
Littell begnügt sich nicht mit der eindimensionalen Beschreibung der grauenvollen Begebenheiten, sondern läßt Max Aue auch als intelligenten Beobachter, philosophischen Betrachtungen nicht abgeneigt, und großen Musikliebhaber erscheinen. Trotz seiner Probleme ist Aue nicht das hassenswerte Monster, der Psychopath oder Narzisst, den wir hoffen in einem solchen Buch zu sehen. Er hegt Gefühle für manche Menschen, auch wenn er dies nicht zur Grundlage seines Handelns macht. Er sieht auch Schönes, das mitten im Entsetzlichen aufleuchtet. Doch Hoffnung vermittelt das Schöne nicht, denn der Grundtenor, den zumindest ich in dem Buch erkannt habe, ist: jeder ist, wenn man ihm nur die richtige Ideologie und Kultur als Basis vermittelt und einen konkreten Feind präsentiert, in der Lage, das Grauen des zweiten Weltkrieges mit Schulterzucken zu reproduzieren. (Dazu habe ich mich auch schon in meinen Blogs geäußert: zum Beispiel hier.)
Ich halte das Buch persönlich für DAS Buch über die Zeit zwischen 1930 und 1945 und die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie. Im Grunde sollte gerade wegen des oben beschriebenen Grundtenors jeder dieses Buch gelesen haben. Ich selbst habe es jetzt das zweite Mal – für diese Rezension – gelesen und habe wieder neue Aspekte gerade in den philosophisch geprägten Momenten des Protagonisten gefunden, die ich für nachdenkenswert halte.
Daher kann ich es dir uneingeschränkt ans Herz legen, weil es nicht nur einen grandiosen Spannungsbogen aufrecht erhält, sondern auch so viel zum Nachdenken und Nachlesen bereithält. Auch als Diskussionsgrundlage im Freundeskreis ist es offensichtlich – wenn man sich die vielen extrem divergierenden Rezensionen aus dem Erscheinungsjahr ansieht – hervorragend geeignet.
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