Eines meiner Lieblingsbücher in bezug auf Psychotherapie stammt von dem amerikanischen Psychoanalytiker Irvin D. Yalom, der neben Fachbüchern auch sehr  lesenswerte Romane über bekannte Persönlichkeiten geschrieben hat. (So z.B. über Nietzsche und Freud in „und Nietzsche weinte“ oder über Spinoza und den nationalsozialistischen Politiker Alfred Rosenberg in „Das Spinoza-Problem“, beide bei BtB erschienen und z.B. hier erhältlich: Nietzsche und Spinoza )

Das vorliegende Buch ist kein Roman, sondern wendet sich an Therapeuten und an jeden, der sich für den Ansatz der existentiellen Psychotherapie, deren bekanntester Vertreter er ist, interessiert. Nachdem er den Inhalt existentieller Psychotherapie erläutert hat, widmet er sich in vier Abschnitten den aus seiner Sicht vier existentiellen Themen: dem TOD, der FREIHEIT, der ISOLATION und der SINNLOSIGKEIT. Daß diese Themen nicht nur für den Patienten, sondern auch für den Therapeuten relevant sind, macht er gleich zu Beginn des Buches deutlich, denn beide „müssen die Angst bewältigen, die aus den vier existenziellen Fragen entsteht, die in diesem Buch beschrieben werden. Es gibt hier kein Wir (die Therapeuten) und Sie (die Leidenden). Es ist uns gemeinsam, wir sind Reisegefährten – oder wie Schopenhauer sagt: Leidensgefährten -, und die Grundlagen effektiver Therapie sind tiefe Fürsorge und Empathie für unsere Patienten und die Schaffung einer echten Begegnung.“ (Seite 14)

Existentielle Psychotherapie

In diesem Abschnitt kommt Yaloms eigenes Verständnis über das Verhältnis zwischen Patienten und Therapeuten wie auch seine Herangehensweise an die Arbeit mit einem Patienten deutlich heraus. Für ihn geht es auf Patientenseite nicht um die konkrete Ausprägung einer Beschwerde, sondern um die Erkenntnis, daß er Hilfe benötigt. Auf Therapeutenseite ist ihm weniger die Linientreue zu einer bestimmten therapeutischen Richtung wichtig, als vielmehr seine Fähigkeit, die Welt des Patienten nicht nur zu verstehen, sondern für die Arbeit in diese eintreten zu können und ihre Erscheinungsformen zu sehen. Dabei sollte er sich an den Grundsätzen der humanistischen Psychologie orientieren und den Menschen als Ganzes in seinem menschlichen Umfeld verstehen, als ein Individuum mit Bewußtheit und darauf basierenden Wahlmöglichkeiten, die auf einen Zweck oder Sinn gerichtet sind. (Seite 32/33)

Yalom war es, der mich nachdrücklich auf das zentrale Thema der Angst in allen Problemen, die Patienten mit in eine Therapie bringen, hingewiesen hat und an dessen Ansatz ich meine Arbeit orientiere: „Obwohl die therapeutische Arbeit sich in viele Richtungen hin ausdehnt, benutzen die Therapeuten Angst immer wieder als Leuchtturm oder Kompass. Sie arbeiten auf die Angst hin, decken ihre grundlegenden Quellen auf und versuchen als letztes Ziel, diese Quellen an der Wurzel zu packen und zum versiegen zu bringen.“ (Seite 59) Auch hier ist es wieder wichtig, daß die Angst des Therapeuten demjenigen bewußt ist, damit er sie in der Arbeit mit dem Patienten nicht verleugnen kann, indem er mit dem Patienten das entsprechende Angstthema vermeidet.

Tod

In Bezug auf den Tod – etwas, was meines Erachtens nicht nur im therapeutischen Kontext, sondern auch in der gesellschaftlichen Diskussion schmählich vernachlässigt wird (siehe meinen blog zum Thema) – geht es nicht nur um die vor allem mit dem Tod zusammenhängenden Ängste, sondern auch um die Persönlichkeitsstruktur von Menschen, die für diese Ängste besonders anfällig sind. Diese sind zum einen durch Verlusterfahrungen geprägt, zum anderen aber auch durch bestimmte Persönlichkeitszüge, die nicht nur anerzogen, sondern auch genetisch übernommen wurden. So ist es zum Beispiel sinnvoll herauszufinden, ob jemand seine Überzeugungen aus sich heraus oder von anderen bezieht. Yalom bezeichnet diese als „internale oder externale Kontrollüberzeugung“. Menschen mit diesen unterschiedlichen Überzeugungen weisen sehr unterschiedliche Eigenschaften und Verhaltensweisen auf. Grundsätzlich könnte man sagen, daß, je externaler jemand in seinen Grundüberzeugungen orientiert ist, er desto ängstlicher in seinem Leben agiert. (S. 188)

Diese Persönlichkeitsstrukturen haben viel damit zu tun, was Menschen an eigenen Anteilen nicht anerkennen oder nicht wahrhaben wollen. Diese Integration in eine „ganze Person“ ist aber unabdingbar, um sich seinen Ängsten, und darunter der tiefsten aller Ängste, der Todesangst, stellen zu können.

Ich habe seine und die Erkenntnisse anderer zusammen mit meinen eigenen in meinem Fragebogen zum Thema Angst verarbeitet, in dem gerade auch Persönlichkeitsmerkmale als mögliche Voraussetzungen für Angsstörungen betrachtet werden (den Fragebogen findest du hier:)

Freiheit

Freiheit – ein so oft mißbräuchlich verwendeter Begriff – wird von Yalom vor allem in Bezug auf die Überzeugungen der Menschen analysiert. Vor allem im therapeutischen Kontext geht es häufig genug darum, die eigene Freiheit überhaupt erst einmal wahrzunehmen und sich nicht auf einschränkende Rahmenbedingungen zurückzuziehen. Mein von allen Patienten und auch meiner Familie gehaßter Satz „Ich kann nicht, heißt, ich will nicht.“ wird auch von Yalom eindeutig bekräftigt. Auf der anderen Seite muß jeder bestimmte – die Freiheit einschränkenden – Wahrheiten akzeptieren: unsere Sterblichkeit, unser ganz eigene Verantwortung für unser eigenes Leben, die von uns unabhängige zeitweise Ungerechtigkeit des Lebens. In Abwägung von beiden muß der Patient (und eigentlich auch jeder andere) eine klare Unterscheidung treffen zwischen dem, was er tatsächlich nicht verändern kann, und dem, wofür er die Verantwortung übernehmen kann und muss. Ohne diese klare Erkenntnis wird der Wunsch auf Veränderung immer unerfüllt bleiben.

Isolation

Das Wort Isolation wird hier nicht in dem Sinne von Einsamkeit eines Menschen diskutiert, sondern im Zusammenhang mit dem vorhergehenden Abschnitt. Denn in dem Moment, in die man Verantwortung für sein eigenes Leben übernimmt, versteht man die existentielle Einsamkeit oder Isolation, denn niemand ist mehr für die Erschaffung oder den Schutz des Ichs zuständig.

Der Prozeß der Isolierung ist zudem ein Prozeß des Wachstums. Denn „das menschliche Leben beginnt mit einer Verschmelzung von Ei und Sperma, durchläuft eine embryonale Phase vollständiger physischer Abhängigkeit von der Mutter, hin zu einer Phase physischer und emotionaler Abhängigkeit von den umgebenden Erwachsenen. Allmählich errichtet der Mensch Grenzen, die deutlich machen, wo er oder sie endet und andere anfangen, und wird selbstständig, unabhängig und getrennt. Sich nicht zu trennen bedeutet nicht zu wachsen. Aber der Preis, den wir für die Trennung und das Wachsen zahlen, ist Isolation.“ (Seite 420) Hier wird die grundlegende Schwierigkeit, vor der wir als menschliche Wesen stehen, deutlich, denn wir müssen einerseits als soziale Wesen agieren, uns aufeinander beziehen, andererseits auch unser individuelles Ich entwickeln und uns so von anderen isolieren. Und Yalom formuliert ganz klar das Dilemma unserer Zeit: „In dem jahrhundertealten Kampf zwischen Ausdruck der eigenen Persönlichkeit und Sicherheit in der Verschmelzung wird gewöhnlich das Selbst um der Vermeidung der Isolation willen geopfert. Die Verlockung der Gruppe ist wirklich mächtig. Die Tragödie von Jonestown zeigt – um eines von unzähligen Beispielen zu erwähnen – die Macht der Gruppe. Die Identifikation mit der Gruppe bot den Beteiligten einen Schutzhafen vor der Furcht vor den isolierten Existenz an – etwas so Wertvolles, dass sie gewillt waren, alles dafür zu opfern: ihre weltlichen Güter, ihre Familie, Freunde, ihr Land und schließlich auch ihr Leben.“ (Seite 442)

Sinnlosigkeit

Um das Problem der Sinnlosigkeit zu verstehen, ist zunächst zu begreifen, was eigentlich Sinn ist. Nach Frankl versteht Yalom hierunter alles, was man von der Welt nimmt, im Sinne von Begegnungen und Erfahrungen, aber auch seine Haltung gegenüber dem Leiden, gegenüber dem Schicksal, dass man nicht ändern kann. Doch das als Sinn zu erfahren, bedarf häufig der Lebensweisheit oder der Therapie. Denn der Mensch hat heute auf der Basis der Wissenschaft keine Vorstellung einer sinn- und zweckgerichteten Evolution mehr.  Yalom formuliert daher die Frage: „Wie findet ein Wesen, das Sinn braucht, Sinn in einem Universum, das keinen Sinn hat?“ (Seite 489), die aus seiner Sicht die Grundlage für die massiv ansteigenden Depressionen und Angsterkrankungen ist. Und auch wenn heute weder Religion noch die natürliche Verbindung mit der Natur den Sinn des Daseins vorgeben, so kann aus seiner Sicht die Lösung nur sein, „…sein eigenes Leben zu erfinden (statt den Sinn Gottes oder der Natur zu entdecken), und dass man sich völlig darauf einlassen muss, diesen zu erfüllen.“ (Seite 498). Auch “.. der Gedanke daran, ein Vorbild für andere, besonders für seine Kinder zu sein und ihnen zu helfen, den Schrecken des Todes zu verringern oder zu beseitigen, kann das Leben bis zum Augenblick des Todes mit Bedeutung erfüllen.“ (Seite 501)

Diesen Weg zu finden ist wichtig, denn da der Instinkt den Menschen nicht mehr sagt was sie tun müssen, die Tradition nicht mehr, was sie tun sollen, und das fehlende Wissen, was er tun will, sind „die zwei verbreitetsten Verhaltensreaktion auf diese Krise der Werte … Konformität (das tun, was andere tun) und Unterwerfung unter Totalitarismus (das tun, was andere von einem wünschen).“

Zusammenfassung

Ein für Laien wie für Therapeuten ungeheuer lesenswertes Buch, das alle spannenden Fragen unserer Zeit berührt. Da es zudem eine Reihe von Übungen oder Praktiken, die geeignet sind, sich mit den Themen von Tod, Freiheit, Isolation oder Sinnlosigkeit auseinanderzusetzen, ist es darüber hinaus auch zur Arbeit an sich oder mit Patienten geeignet. Unbedingt empfohlen für jeden politisch, gesellschaftlich und psychologisch interessierten Leser. Nicht ganz kostengünstig (40,00€ für ein neues Exemplar – z.B. hier bei amazon, aber mit Sicherheit auch in Bibliotheken auszuleihen.

 

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