In den letzten Blogs (Gehirn, Hormone, Darm) ging es ja vor allem um körerliche Ursachen von Ängsten und wie du diese beeinflussen kannst. Vieles davon hatte schon mit der Kraft deines Geistes zu tun. Heute wollen wir in dieses Gebiet noch ein wenig tiefer einsteigen, denn aus meiner Erfahrung gelingt das Überwinden von Angst nur im Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele.
Die Zusammenstellung der einzelnen Schritte, die ich hier vorstelle, ist die, die ich persönlich als sinnvoll erachte. Wenn du dich mit dem Thema Angst schon häufiger beschäftigt hast, wirst du vieles wiedererkennen. Letztlich gibt es dafür kein Patentrezept, aber bestimmte Methoden, die sich bei den meisten Menschen mit Ängsten als nützlich erwiesen haben. Zu den hier erwähnten Instrumenten, die ich in meiner Arbeit benutze, findest ab und an Anleitungen in meinem Newsletter.
1. Die Angst erkennen und anerkennen.
Angst, jedenfalls die, die uns den Alltag so schwer macht, ist – wie wir in den ersten Blogs gesehen haben, ein Gefühl. Also etwas, was aus unseren Gedanken und Emotionen zusammengeschmolzen wird. Gefühle – nicht nur Angst, auch Trauer, Wut, Neid, Gier sowie Freude und Liebe – wollen ausgedrückt werden. Und so leicht, wie es uns mit den letztgenannten fällt, so schwer ist es bei den erstgenannten. Auch, weil es weder gesellschaftlich noch familiär erwünscht ist, solchen „schlechten“ Gefühlen Raum zu geben. Um mit Osho zu sprechen: „Es hilft dir nicht, nur nach innen zu explodieren, da du immer wieder Wege suchst, um passiv zu bleiben. Nein. Lass die Wut heraus. Lebe sie aus. Selbst wenn es dir unsinnig vorkommt – gerade dann! Mach dich selbst zum Narren – aber lass sie heraus!“ (Seite 73). Nicht nur er empfiehlt allerdings – wichtig gerade in Miethäusern – lieber in ein Kissen zu schreien.
Wenn du dir erlaubst, deine Angst wirklich zu fühlen, bewirkst du damit zwei Dinge: Zum einen kannst du die Angst körperlich fühlen und beschreiben, was für eine medizinische Überprüfung wichtig ist. Zum anderen erkennst du ihre Existenzberechtigung an, sozusagen auf gleichberechtigter Ebene. Wenn du sie bislang nur verdammt hast, wirst du merken, daß mit der Anerkennung eine ganz andere Arbeitsgrundlage geschaffen ist.
Manche Menschen finden es sehr nützlich, der Angst ein Gesicht oder eine Gestalt zu geben. Mit einem Gesicht oder einer Gestalt verhandelt es sich besser. Wie bei jeder Verhandlung ist es wichtig, daß du die Angst weder verurteilst noch versuchst, sie wegzuschicken. Sie macht dir durch ihre Existenz nur deutlich, daß es da etwas in deinem Leben gibt, daß du verändern mußt.
2. Körperliche Probleme ausschließen
Ehe du mit der Arbeit beginnen kannst, mußt du zunächst körperliche Ursachen für deine Ängste oder Panikattacken ausschließen. Dazu mußt du die körperlichen Symptome deiner Ängste beschreiben können. Sind sie mit Übelkeit, mit Druck in der Brust oder mit Kopfschmerzen verbunden; mit Atemnot, dem Gefühl zu sterben, Schwindel und/oder Ohnmacht. Dazu kann recht hilfreich sein, sich regelmäßig Notizen zu machen. Notizen über den Tag sind ohnehin ein gutes Mittel, in vielen Dingen Muster zu erkennen – sei es im Essen, im Ausgehen, im Schlaf oder eben in der Angst.
3. Ursachen der Angst herausfinden.
Dafür ist es wichtig, dass du dir ganz klar darüber wirst, bei welcher Gelegenheit, unter welchen Umständen, zu welchen Tageszeiten, mit welchen Menschen deine Ängste auftreten und was für ein Muster du in diesem Auftreten erkennen kannst. Gerade bei Panikattacken kann sich das durchaus schwierig gestalten, weil sie gefühlt in Momenten auftreten, die bar jeder Ursache sind.
Ich kenne das aus eigenem Erleben, denn ich hatte nach der Wende und beim Schreiben meiner Dissertation auch schwere Angst- und Panikattacken. Auch wenn ich sie zunächst auf das Alleinsein bezogen habe, ist mir durch Gespräche mit meinen Eltern und dem Therapeuten klar geworden, dass es eher um die Angst ging, nicht genug zu sein und mit meiner Dissertation die mir selbst gesetzten Maßstäbe nicht zu erreichen. Mit dieser Erkenntnis war dann eine rationale Auseinandersetzung möglich. Ich persönlich bin sowieso jemand, der, wenn er verstanden hat, worum es geht und was genau passiert, sehr viel leichter in der Lage ist, sich damit auseinanderzusetzen und eine Lösung für das Problem zu finden. Deshalb bin ich ein großer Freund von Strukturen und genauer Spurensuche (übrigens nicht nur bei mir, sondern auch bei meinen Klienten).
Nimm dir Zeit und einen ruhigen Ort, um dich selbst oder deine Angst genauestens dazu zu befragen, was die Ängste hervorruft. Hinterfrage die einzelnen Antworten, bis du sicher bist, die Antwort gefunden zu haben. Wie du an meinem eigenen Erleben siehst, ist das oft etwas, was nicht sofort zutage tritt, sondern irgendwo unter der Oberfläche schlummert. Findest du keine dich befriedigende Antwort, ist es oft auch hilfreich, dir vor Augen zu führen, was für Gefühle dir zu Hause in deiner Kindheit vermittelt worden sind. An diese kommt man jedoch oft nicht ohne die Hilfe eines Therapeuten heran.
4. Akute Anfälle vermeiden
keine Situationen vermeiden
Schon sind wir wieder beim Geist. Du hast schon Panikattacken erlebt. Und du hast sie überlebt. Es ist dir letztlich nichts geschehen. Mein Mantra war immer: „Das habe ich beim letzten Mal überlebt, das überlebe ich wieder.“ Gleichzeitig ist es nötig, wenn auch schmerzhaft, nichts zu vermeiden. Denn wenn du beginnst, aus Angst etwas zu vermeiden, bist du umgehend in der Endlosspirale der sich immer weiter verstärkenden Angst. Suche dir Unterstützung, wenn nötig, aber vermeide keine Situationen, in denen du schon einmal Panikattacken hattest.
Wenn du kannst, sing! Singen beansprucht die gleichen Hirnareale wie Angst – du kannst also nicht beides gleichzeitig.
entspannen lernen
Eine der wichtigsten Maßnahmen, die ich zur Bewältigung dieser Situationen empfehle, sind Entspannungsübungen. Ich persönlich finde für Klienten mit Angststörungen körperorientierte Entspannung wie die Muskelrelaxation nach Jacobsen passend. Achtsamkeitsübungen hingegen sind aus meiner ganz persönlichen Erfahrung bei Angstpatienten nicht nur wenig hilfreich, sondern können die Ängste sogar verstärken. Das hat damit zu tun, daß es sich meist um sehr sensible Menschen handelt, deren Abschottungsmöglichkeit gegen angsteinflößende Umgebungsbedingungen durch Achtsamkeitsübungen abgebaut werden. Dadurch werden sie sich nicht nur dieser Umwelt, sondern auch des eigenen Körpers noch deutlicher bewußt und identifizieren möglicherweise einen leicht erhöhten Herzschlag schon als Beginn einer Panikattacke. Daher sind eher Meditationen geeignet, die einen Schutzkreis um den Menschen bilden.
Muskelrelaxation macht jedem Übenden deutlich, wie es gelingt, die Muskeln des Körpers so zu steuern, dass sie sich anspannen und entspannen können. Beherrscht man das Verfahren, so gelingt es in einer Paniksituationen leichter, den angespannten Zustand des Körpers zu erkennen und in einen entspannten zu verwandeln, womit in der Regel erleichtertes Atmen und sinkender Herzschlag verbunden ist.
üben
Der entscheidende Punkt – ob du dich für Muskelrelaxation, Meditation oder Achtsamkeitsübung entscheidest – ist jedoch, dass diese Übungen einfach wenig hilfreich sind, wenn du sie nur in dem Moment der Angst versuchst umzusetzen. Dein Körper muß lernen, ganz bewusst Anspannung und Entspannungsvorgänge in deinem Körper wahrzunehmen und zu steuern – und dieses Lernen bedarf des Trainings. Nach meiner persönlichen Erfahrung und der vieler meiner Klienten reicht es dafür aus, jeden Tag über zwei Monate hinweg 10-15 Minuten zu üben. Und die finden sich in jedem Tagesablauf, auch wenn man mehr als 10 Stunden arbeitet. (Die TK bietet Versionen mit und ohne Musik und in Lang- und Kurzversionen an: hier.)
5. Die alten Muster aufgeben.
loslassen
Vielleicht hast du in den Gesprächen mit deiner Angst Sätze ermittelt , die diese auslösen – Sätze wie: „Du schaffst das nicht!“ oder „Du kannst das nicht!“ oder „Gott, wie siehst du denn aus!“ Diese Sätze loszulassen ist ein wichtiger Schritt und gelingt häufig besser, wenn du sie ganz praktisch losläßt, indem du sie auf einen Zettel schreibst und verbrennst oder in einen Fluß wirfst.
Stop sagen
In Kombination hilft das Wort „Stop!“ oder „Nein!“, das du dir jedes einzelne Mal, wenn dein Hirn wieder einen solchen Satz oder aber auch angstauslösende Gedankenkarussells auslöst, sagst. Ein Stopschild als Handybildschirm kann da ebenso helfen wie ein Talisman, den du in einer solchen Situation drückst. Wir sind oft auf visuelle oder kinästhetische Unterstützung angewiesen – deinem Einfallsreichtum sei hier keine Grenze gesetzt.
in die Aktion kommen
Angst läßt dich in der Opferrolle verharren. Opfer sind passiv und dulden. Das bedeutet, du mußt aus dem „Erleiden“ deiner Angst in die Aktion kommen, sie zu steuern und zu vermindern. Das tust du bereits, wenn du die Situationen in Kauf nimmst, aber auch, wenn du die alten Muster bewußt aufgibst.
dankbar sein
Dankbarkeit ist ein weiterer wichtiger Punkt auf der Liste. Dankbarkeit für die elementar wichtigen Dinge. Solche Dinge können sein: ein Leben ohne Kriege, einen warmen und trockenen Schlafplatz zu haben, heute genug gegessen und getrunken zu haben, eine Familie, in der man aufgewachsen ist und die einen mit allen Stärken und Schwächen bis hierher gebracht hat, Freunde, Verwandte, Lebensgefährten und Kinder, Haustiere, die Vögel auf dem Feld und der Sonnenaufgang – all das ist für so viele Menschen nicht selbstverständlich. Wenn du sie hast, genieße und schätze sie. So selbstverständlich sie dir neben deinem Problem auch vorkommen mögen.
üben
Diese Muster neu einzuüben – ja, auch das erfordert Übung – hilft, diese Veränderungen in deinem Hirn als das neue Normal zu etablieren. Sukzessive veränderst du dadurch deinen Gedanken vom Negativen zum Positiven.
6. Neue Wege beschreiten
Vision eines neuen Ich finden
Die von dir identifizierten Ursachen benötigen Lösungen. Du brauchst eine Vision eines neuen angstfreien Ichs. Diese Vision, diese klare Vorstellung bietet dir dann die Wege zum Erreichen dieses Zustandes an. Das können einfach nur neue Sätze über dich sein. Das kann aber auch die therapeutische Auflösung eines Kindheitstraumas sein. Oft erfordert es jedoch die Veränderung der angstauslösenden Lebensumstände und gerade das ist die eigentliche Herausforderung. Denn dabei geht es um die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und familiären Vorgaben. Das kann der Zwang zum Erfolg sein, der mit dem permanenten Gefühl der Unzulänglichkeit verbunden ist, der Druck zu einem „geordneten, normalen“ Privatleben, das kann „sichere“ Lebensgestaltung sein, die dich unterschwellig unzufrieden und unglücklich macht.
aus dem worst-case die nötigen Handlungen ableiten
Die Lösung aus gefühlt sicheren Lebensumständen oder ihre Veränderung macht oft mehr Angst als die eigentlich angstauslösenden Bedingungen. Daher ist es manchmal sehr nützlich, sich zu fragen, was für dich das absolute Worst-case-Szenario wäre. Oft wirst du feststellen, daß – stellst du dir das nur intensiv genug vor – du von dort vielleicht sogar leichter Lösungsansätze für dein Problem findest, denn in dieser Situation ist ja die Talsohle bereits erreicht und du kannst nichts mehr falsch machen. Und du verstehst aus diesem Szenario, was du auf keinen Fall (mehr) willst.
das neue Ich entwickeln
Aus dem, was du nicht willst, mußt du dann nur noch entwickeln, was du willst. Zu der Vision des angstfreien Ichs kommt also die Vision, wo und wie dieses Ich zukünftig existieren möchte. Gerade diese Antwort ist nicht immer so banal. Ich kenne so viele Menschen, auch Klienten, die sehr genau wissen, was sie nicht wollen. Nicht mehr rauchen, nicht mehr diesen Job machen, nicht mehr mit diesem Mann leben, nicht mehr in diesem Land leben. Die aber, wenn überhaupt, nur diffuse Vorstellung davon haben, was sie stattdessen wollen. Dazu kannst du dir zum Beispiel folgende Fragen stellen: wenn ich ganz neu und ohne Bedingungen etwas neu anfangen könnte, was wäre das (privat, beruflich)? Wie möchte ich mich sehen, wenn ich kurz vor meinem Tod auf mein Leben zurückblicke? Was glaube ich, was im Leben wirklich wichtig ist? Natürlich kann nicht alles in seiner Absolutheit realisiert werden. Denn natürlich sind nicht alle Rahmenbedingungen durch uns änderbar. Ich kann zum Beispiel nicht mit einem Raumschiff auf den Mars fliegen (was ich sehr gerne würde). Fähigkeiten und körperliche Voraussetzungen setzen manchen Visionen ebenfalls Grenzen. Doch genau zwischen diesen beiden Spannungsfeldern – den nicht änderbaren Bedingungen und dem worst-case – findest du deine Vision.
7. Dich in eine positive Beziehung zu anderen setzen.
Ich persönlich glaube, daß wir nur in einen ausgewogenen Geisteszustand kommen können, der für die Befreiung von Angst und Panik Voraussetzung ist, wenn wir nicht nur für uns denken. Ich weiß, das widerspricht ein wenig dem oben formulierten Aufruf zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen. “Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“. sagte Rosa Luxemburg, was sehr oft falsch verstanden wurde und wird. Regeln und Umstände in einer Gesellschaft oder Familie, die ich als notwendig oder hilfreich für meine Stellung in ihr erkenne, stellen keine Beschränkung meiner Freiheit dar, sondern formen diese nur aus –anderenfalls müßten wir allein auf einer einsamen Insel leben. Doch über deine persönliche Freiheit hinaus geht es zudem um die Erkenntnis, wie eng auf unserem Planeten – und vielleicht darüber hinaus – alles miteinander zusammenhängt. (eine sehr interessante sozialwissenschaftliche Untersuchung findest du hier .) Entscheidungen, die du für dich triffst, haben Auswirkungen auf andere – nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar. Doch hier geraten wir bereits in den Bereich der Seele, zu deren Einfluß auf Angst und Panik ich mich im nächsten Blog äußern werde.
Ich wünsche mir, daß diese Struktur auch für dich hilfreich ist.
Deine Claudia