Manchmal gibt es Bücher, auf die würde man ohne Empfehlung nicht stoßen. Dieses ist eines davon. Mein Kollege erzählte mir in der Kaffeepause davon und ich wollte mehr lesen. Vielleicht denkst du jetzt: Mein Gott, warum sollte ich ein Buch über verlorene Sprachen lesen? Ich gebe zu, es klingt abseitig und trotzdem habe ich mich an einem Tag durch dieses Buch gelesen und fand es absolut faszinierend. Also vielen Dank an die Herausgeberin, die offenbar davon überzeugt war, daß das doch für viele Leser interessant sein könnte.

Worum geht es?

Wie der Titel schon sagt, geht es um die Vorstellung schon oder fast ausgestorbener Sprachen auf unserer Erde. Allerdings nicht aller Sprachen – viele Bände wären dafür notwendig. Die Herausgeberin hat sich auf 50 dieser Sprachen beschränkt, die alle Kontinente abdecken. Nach welchen Kriterien diese Sprachen ausgewählt wurden, bleibt dabei das Geheimnis der Autorin, ebenso wie die Frage wieviel Seiten einer Sprache gestattet wurden. Die Sprachen sind nach Kontinenten sortiert und enthalten jeweils ein Deckblatt und ein bis vier Seiten Text. Dem Deckblatt kann man nicht nur entnehmen, wie viele Menschen diese Sprache noch sprechen, und wie gefährdet diese Sprache daher ist, sondern auch wo du dir ihre Sprecher geographisch vorzustellen hast. Dabei zeigt die Abbildung, ein wie kleiner oder auch überraschend großer Fleck auf unserer Landkarte von dem entsprechenden Volk eingenommen wird. Wenn Sprachwissenschaft dein Beruf oder Hobby ist, wirst du wertschätzen, daß die einzelnen Sprachen auch Sprachfamilien zugeordnet sind, für mich persönlich war das eher weniger relevant.

Was gefiel mir?

Für mich war das Buch aus verschiedenen Gründen interessant. Zum einen bekam ich einen sehr kompakten Überblick über extrem verschiedene Sprachen und damit noch einmal einen Hinweis auf die Vielfalt unserer Species. Zum anderen enthält das Buch auch einige Erkenntnisse zu Sprachen insgesamt. So wird deutlich, daß Sprache mit den jeweiligen Umweltbedingungen zusammenhängt. Du hast vielleicht schon einmal gehört, daß die Inuit viele unterschiedliche Ausdrücke für Schnee besitzen – hier liest du noch über andere, für unser Sprachverständnis noch abwegigere Verbindungen mit der umgebenden Natur. Dabei wird nebenbei die Annahme widerlegt, daß die Komplexität der Lebensweise sich auch in der Komplexität der Sprache niederschlägt und andersherum. Und nicht nur die Umwelt prägt die Sprache – das funktioniert auch andersherum.

Weiterhin scheint es sicher zu sein, daß es keine Regeln gibt, die unabhängig von Zeit und Ort der Entstehung für jede Sprache gelten. Das ist vor allem deshalb interessant, weil damit auch die Theorie vom Tisch wäre, daß es in jedem Menschen ein angeborenes Verständnis für Grammatik gibt. So gibt es z.B. auch Völker, die für denselben Begriff unserer Sprache zwei komplett unterschiedliche Worte haben – je nachdem, ob der Sprecher ein Mann oder eine Frau ist. Und wußtest du, daß das menschliche Sprachorgan mehr als 1500 unterschiedliche Laute bilden kann? Dabei ist es extrem unterschiedlich, wie umfassend diese Möglichkeiten genutzt werden. Die im Amazonas lebenden Piraha brauchen weniger als ein Dutzend Phoneme (das sind die kleinsten Lauteinheiten, die einen Bedeutungsunterschied in der Sprache machen), die südafrikanischen !Xóo aber 159. Neben den gesprochenen Sprachen gibt es auch getrommelte oder gepfiffene Sprachen – nicht nur kurze Signale, sondern tatsächlich ganze Sätze oder Erzählungen.

Auch die Gestaltung gefiel mir – sie erinnerte mich – warum auch immer – an alte Reisebeschreibungen. Wahrscheinlich geschuldet der Farbwahl der Deckblätter und den zahlreichen gezeichneten Illustrationen, die in der Zeit vor dem Photoapparat bei Reisen so üblich waren. Diese Gestaltung ist unaufdringlich und trotzdem sehr stimmig; vielleicht paßt sie auch gerade deshalb, weil diese Sprachen ja auch verblassen.

Was gefiel mir nicht?

Was ich mir gewünscht hätte, wäre, die Kriterien zu verstehen, nach denen ausgewählt wurde. Zum Beispiel fand ich die Erwähnung der ja nun schon sehr lange ausgestorbenen etruskischen Sprache in diesem Buch irgendwie fehl am Platz. Dafür sind z.B. die Sprachen der fahrenden Völker Europas nicht vorgekommen – obwohl sicher auch diese im Aussterben begriffen sind. Für tiefer interessierte Leser wäre auch ein umfassender Literaturapparat mit Veröffentlichungen zu den einzelnen Sprachen sicher sehr interessant gewesen.

Vielleicht an der Stelle einige wenige Beispiele dieser 50 Sprachen, die illustrieren, wie vielfältig dieses Thema ist (Achtung, Spoileralarm):

1. Die Sprache der Nuu-cha-nulth, eines indigenen Volkes in Kanada mit weniger als 130 Sprechenden zum Zeitpunkt der Veröffentlichung.

Diese Sprache hat, wie wir für Babys und Kleinkinder, Wortveränderungen nicht nur für kleine, d.h. auch kleinwüchsige, Menschen, sondern auch für Menschen mit einem Buckel oder Augenleiden, für Gehbehinderte oder Linkshänder sowie für beschnittene Männer. Dafür werden Laute oder kurze Silben in ein Wort eingefügt. So wird z.B. das Wort ha’ókw’ma‘ (er ißt) zu ha’ókwag’ma‘ (er, der Dicke, ißt).

2. Die Sprache der Subyire, einer in Mali gesprochenen Sprache mit immerhin noch 350.000 Sprechern.

 Im Unterschied zu unserer Sprache, dir auch für manche Ausländer schon schwierig zu erlernen ist, hat sie nicht nur drei grammatikalische Geschlechter, sondern fünf. Diese werden aber nicht nach denen sexuellen Geschlechtern sortiert, sondern umfassen bestimmte Gruppen, nämlich Menschen (zu denen interessanterweise auch die Elefanten zählen), große Gegenstände oder Lebewesen, kleine Gegenstände oder Lebewesen, kollektive oder gruppengeordnete Dinge oder Lebewesen sowie Flüssigkeiten. Außerdem haben sie, vermutlich aus dem Französischen übernommen, eine extrem komplizierte Variante große Zahlen auszudrücken. So heißt 1000 wieder zurück ins Deutsche übersetzt: 2 x 400 + 2 × 80 + 2 × 20.

3. Die Sprache der Himba, eines in Namibia und Angola lebenden Volkes mit weniger als 30.000 Sprechenden.

 Bekannt ist dieses Volk durch die außerordentlich photogenen Frauen dieses Stammes, die den gesamten Körper mit roter Farbe bemalen.  (Ich fand diese faszinierenden Bilder schon als Kind beim Stöbern in Großvaters Bücherschrank in Reisebeschreibungen aus dem 19. Jahrhundert). Aber auch ihre Sprache ist unglaublich. Die Himba kennen nur fünf Farbworte, „serandu“ für alle roten, braunen, orangefarbenen und gelben Töne, „dumbu“ für beige, hellgelb und hellgrün, „zoozu“ für sehr dunkle Farben und schwarz, „vapa“ für lichtes weiß und gelb und „burou“ für alle Grün- und Blautöne. Warum erzähle ich dir das? Weil die Himba unter 11 verschiedenen Grüntönen den minimal helleren Grünton erkannten, unter zehn Grün- und einem Blauton jedoch das Blau nicht. Spannend, wie Sprache die Wahrnehmung beeinflußt, oder?

4. Die Sprache der Warlpiri, eines Volkes in Zentralaustralien mit nur noch 2500 Sprechern zum Zeitpunkt der Veröffentlichung.

Ganz anders als die Himba haben die Walpiri ein extrem kompliziertes Farbsystem. Dabei ist strittig, ob dieses System überhaupt korrekt mit unserem abstrakten Begriff für Farbe wiedergegeben werden kann. Denn während wir Farbe als einzelnen Begriff für eine Beschreibung nutzen können, beinhalten die von den Warlpiri genutzten Worte eben nicht nur die Farbe, sondern auch zum Beispiel die Konsistenz, oder die physische Empfindung beim Anfassen oder die Zweckgebundenheit. Wie schwierig dieser Zugang für Europäer ist, durfte 1863 die australische Regierung erfahren, die nach einem langen Streit über die den Aborigines heiligen Ockerberge und deren Farbe versuchte, diese zu besänftigen, indem sie ihnen Ockerfarbe lieferten. Schnell stellte sich heraus, daß diese aus der falschen Mine stammte und damit die völlig falsche Farbe besaß. Der notwendige Schimmer des Ockers aus der richtigen Mine – die Quecksilber enthielt – war in der von der Regierung gelieferten Farbe nicht enthalten.

5. Die Sprache der Maniq, eines Volkes in Thailand und Malaysia mit weniger als 300 Sprechern.

Auch die Maniq benutzen Bezeichnungen für ihre Umwelt, die sich uns nicht direkt erschließen. Sie haben z.B. spezielle Begriffe für Düfte. Wie riecht bei dem Maniq die Sonne? „Hamis“ – das ist keine Umschreibung oder ein bildlicher Ausdruck wie zum Beispiel holzig oder fruchtig oder blumig. Die Duftworte der Maniq sind eigenständige abstrakte Begriffe, die völlig unterschiedliche Begriffe beschreiben können wie z.B. ein Wort, das sowohl Yamswurzel als auch Pilz, fließendes Wasser, Schlamm, schlammige Knollen, die gekocht wurden, nasse Kleider, Schweiß oder Urin bezeichnet. Du merkst, es ist schon schwer, in unserer Sprache zu beschreiben, was diese Duftwörter sind.

Fazit

Ich könnte aus dem Stand noch mindestens 10 weitere Sprachen beschreiben, die extrem interessant sind. Vielleicht haben dir aber meine Beispiele schon einen kleinen Eindruck verschafft, was in diesem Buch zu entdecken ist. Gerade weil es so einen knappen Überblick über so viele Sprachen mit sehr, sehr unterschiedlichen Regeln und Bezügen zu ihrer Umwelt zeigt, machte es mir wirklich Spaß, es hintereinander weg zu lesen. Ich wünschte mir eine Fortsetzung dieses Buches, denn es gibt sicher noch viele andere Themen, die uns in anderen Sprachen erstaunen können.

Ein wenig Bedauern klingt natürlich in dem Buch mit – und ich konnte das absolut nachvollziehen – was für ein reicher Schatz uns hier sukzessive verloren geht. Die Sprachen dieser Völker sind meines Erachtens – und auch nach der der Herausgeberin – genau solche Perlen unserer Kultur wie verschwindende Tiere und Pflanzen.

Zusammenfassend kann ich dieses Buch jedem ans Herz legen, der noch nicht verlernt hat, zu staunen und freudig und begeistert vor der Vielfarbigkeit unserer Welt steht. Vielleicht findet es als Geschenk auch den Weg zu Menschen, die über ein solch wenig thematisiertes Gebiet zu diesem Staunen zurückfinden. Vorkenntnisse sind zum Verständnis nicht nötig und die unkomplizierte Sprache, die dennoch genau bleibt, macht das Lesen zum Vergnügen.

Und hier findest du es: bei amazon oder natürlich beim Buchhändler deiner Wahl.

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